Sie kennen vermutlich alle solche Situationen: Sie müssen los. Sie wollen los, vielleicht ein Spaziergang mit den kleinen Kindern oder der Besuch bei Oma und Opa, wie auch immer. Jedenfalls ist heftiger Protest angesagt. Die lieben Kleinen wollen nicht. Freundliches Zureden, Versuche des Überredens, vielleicht Verspre-chungen - nichts hilft. Meine Stimme wird lauter, durchdringender, und irgendwann weiß ich nicht mehr weiter. Ich schreie, brülle, packe fester zu - mit dem Ergebnis, dass die Kinder genau so reagieren, nämlich laut und widerspenstig.
Solche und ähnliche Klagen höre ich von vielen Eltern in meiner Praxis, und ich selber habe das auch oft genug durchlitten. Es geht um Auseinandersetzungen, Streit: „Der bringt mich auf die Palme!“ „Da kann ich sagen, was ich will, nichts passiert!“ „Wenn er doch nur einmal, ein einziges Mal, aber nein, immer gegen an. Immer schafft er es, dass ich mich aufrege!“ Es geht ums Essen, ums Aufräumen, um abgesprochenen Pflichten. Kein Ausweg, nur Hilflosigkeit, Aufregung, Krach und schlechte Laune, auch Strafen. Nichts hilft.
Es fiel mir schwer, meine eigene Hilf- und Machtlosigkeit einzusehen und einzugestehen. Und doch war das der erste Schritt. Denn ob ich mich aufregte oder ruhig blieb, das machte keinen Unterschied. Mir wurde klar, dass sich dadurch nichts änderte. Also stand die Frage im Raum: „Wozu reg’ ich mich auf?“
Da nichts nutzt, kein Aufregen, kein Drohen, kein Strafen, könnte es an der Zeit sein, etwas anderes probieren, überlegte ich. Vielleicht etwas, was weniger erwachsengerecht und mehr kindgemäß ist. Vielleicht... Kinder spielen mit Freude und Begeisterung. Also: Wieso nicht ein Spiel daraus machen? Ich gab dem Spiel den - zugegeben: etwas umständlichen - Titel „Morgen wirst du es nicht schaffen, dass ich mich aufrege“.
Die Spielregeln sind einfach, müssen allerdings am Abend vorher veröffentlicht, also im Familienkreis und vor allem in Anwesenheit der Kinder angekündigt werden. Etwa folgendermaßen: „Ich werde mich morgen nicht über dich aufregen. Du wirst es nicht schaffen, dass ich mich aufrege. Ich werde ganz ruhig bleiben. Nicht schreien, nicht drohen.“
Am besten sagen Sie das mit ruhiger Stimme. In der Regel folgt ungläubiges Staunen. Und Freude – bei Ihrem Kind. Vorfreude darauf, gewissermaßen Narrenfreiheit zu haben, alles tun zu können, ohne dass Sie sich aufregen.
Nun lächeln Sie ruhig weiter, bleiben Sie ganz ruhig. Sie merken schon: Der erste Test hat bereits begonnen.
Wenn Ihr Kind Pläne entwickelt, wie es Sie ganz sicher aufregen kann, stimmen Sie freundlich zu, etwa indem Sie sagen: „Ja, das hat bisher geklappt. Aber, wie gesagt, morgen ist es anders. Ich werde mich nicht aufregen.“ Machen Sie am besten wieder eine kleine Pause, ehe Sie ergänzen: „Und was ich dann tun werde ... ja, das weißt du auch noch nicht ...“
Vergessen Sie nicht zu erwähnen, dass das Spiel erst morgen beginnt. Also können Sie heute noch das tun, was Sie sonst auch tun.
Ein kleiner Tipp: Wenn Sie das Spiel zum ersten Mal spielen, schreiben Sie es sich auf, legen Sie sich einen Zettel auf oder neben den Wecker, damit Sie sich morgen früh sofort daran erinnern: Heute ist der Spiel-Tag.
Dann kommt der nächste Tag.
Tatsächlich erwies es sich für mich als hilfreich, die üblichen Hakeleien als Spiel zu deklarieren. Denn jetzt achtete ich weniger darauf, was genau meine Kinder machten, sondern mehr darauf, wie und mit welchem Erfolg sie versuchten, mich auf die Palme zu bringen. Ein kleiner, aber wichtiger Unterschied. Denn jetzt konnte ich durchaus als Anerkennung sagen - denn das war Ziel des Spiels: „Das war gut. Normalerweise wäre ich jetzt an die Decke gegangen. Aber heute will ich gerne gewinnen. Deshalb rege ich mich nicht auf. Aber das war wirklich gut von dir.“
Diese Definition, Spiel statt Ernst, hat mich gelassener gemacht. Und den Tag irgendwie spielerischer. Alles, was geschah, war eben nicht persönlich, sondern Teil eines Spiels. Das half mir, mich zu beobachten - als Spielstrategie gewissermaßen.
Am Abend fand dann die „Auswertung“ statt: Entweder hatte mein Kind gewonnen oder ich. Im ersten Fall konnte ich ihm gratulieren; es war eben einfach besser. Im letzteren Fall konnte ich mich bei meinem Kind bedanken - für sein Mitspielen, seine Leistung und seinen Einsatz.
Und wenn mein Kind mich dann am nächsten Tag wieder aufregte, konnte ich mit einem Lächeln sagen: „Oh, dir hat es so viel Spaß gemacht, dass du heute gleich wieder weiterspielen möchtest?“
Das hat das störende Verhalten nicht (sogleich) beseitigt oder verändert. Es hat mir aber sehr geholfen, mich (zumindest) anders zu dem Verhalten meines Kindes in Beziehung zu setzen. Wir spielten miteinander. Das hat die Schärfe (ein wenig) genommen und unsere Beziehung verändert. Vielleicht sollte ich der Ehrlichkeit halber erwähnen, dass wir oft viel Spaß beim Spielen hatten.
Ich erinnere mich noch ziemlich genau an meinen ersten Spiel-Tag. Schon morgens kurz vor dem Aufstehen begann es, in mir zu brodeln. Die Kinder trödelten, und die Zeit lief, denn Schul- und Kindergartenbus warteten einfach nicht. Ich war kurz davor mich aufzuregen, hatte schon tief Luft geholt, als ich mich daran erinnerte: Heute ist ja Spiel-Tag. Ich atmete aus, lächelte und sagte zu den Kindern: „Nein, heute nicht, heute rege ich mich nicht auf. Fast hättet ihr es geschafft. Fast hättet ihr gewonnen. Eben - fast.“ Ich war stolz auf mich, die Kinder grinsten und lachten, die Stimmung kippte - zum Positiven.
Ich habe dieses Spiel noch öfter gespielt. Heute denke ich, dass das wichtigste Moment eine andere Betrachtung war, die sich - zumindest längerfristig - als hilfreich und nützlich erwiesen hat. Anstatt das Verhalten meines Kindes ausschließlich als negativ zu bewerten, konnte ich darin auch eine soziale Fertigkeit erkennen - nämlich sein Vermögen, mein Verhalten nach seinem Sinne zu beeinflussen. Und wenn ich erst einmal imstande war, bei meinem Kind eine Fertigkeit, ein Vermögen, eine Kompetenz zu sehen, dann sprach doch nichts dagegen, nach weiteren Fertigkeiten Ausschau zu halten.
Noch ein Beispiel? Ich denke, Ihnen geht es vermutlich wie mir, was die Erziehungsziele angeht. Ich möchte, dass meine Kinder selbstbewusst werden, ihre eigene Meinung vertreten, zu ihrer Meinung stehen, auch gegen die Ansichten anderer. Alles schön und gut - aber was, wenn meine Kinder ziemlich andere Ansichten haben als ich? Auch dann hat mir das Wertschätzen sehr geholfen - etwa indem ich meinen Erziehungserfolg betont habe: „Da habt ihr glücklicherweise einen tollen Vater, der so selbstständige Kinder miterzogen hat. Herzlichen Glückwunsch!“ Nicht das Gegeneinander, sondern die erworbene Fähigkeit steht im Blickpunkt, und daran lassen sich Gespräche anknüpfen. Das ist es: Elternliebe und der Stolz auf die (eigenen) Kinder. Das grundlegende Erziehungsprinzip, denke ich.
„Und“, so werden vermutlich einige fragen, „hatten Sie Erfolg?“ Eine tückische Frage, denn was wäre ein Erfolg? Ja, ich hatte Erfolg und sogar weitreichenden, denn mir ging es in den genannten Situationen besser, und ich konnte einen viel respektvolleren und wertschätzenderen Umgang mit meinen Kindern verwirklichen. Ich brauchte nicht zu schimpfen, nicht zu erklären, nicht zu erläutern und vor allem: Ich brauchte nichts persönlich nehmen. Es war immer ein Spiel, und die Folgen waren eindeutig geklärt: Die Regeln galten, und die Konsequenzen waren genauso klar. Die Kinder haben nur in ganz, ganz wenigen Fällen den Kindergarten- oder Schulbus verpasst. Keine Mama und kein Papa, die sie dann hinbrachten. Sie mussten selber dafür sorgen - zu Fuß gehen, das Fahrrad nehmen oder, was auch vorkam, zu Hause bleiben.
Das kam wirklich allerhöchstens zweimal vor. Die Kinder nutzten das nicht aus, denn davon ging ich als Vater aus: Vertrauen in meine Kinder. Es war ihre Verantwortung. Das hat es einfach gemacht, und ich als Vater konnte mein Zutrauen, meine Zuversicht und meinen Respekt den Kindern gegenüber ausleben.
Dasselbe gilt für das Aufregen. Es war ein Spiel, nicht persönlich, und das wurde sehr rasch deutlich mit Worten wie „Guter Versuch, doch ich reg’ mich nicht auf. Aber du hast dich wirklich toll angestrengt und deine Idee war wirklich gut. Hat aber nicht geklappt.“ Das alles mit einem Lächeln - so blieb die Beziehung entspannt. Es war ein Spiel und wir konnten weiterhin ruhig und wertschätzend miteinander umgehen.
Das, denke ich, ist das ganze Geheimnis: Klarheit. Ich traue meinen Kindern. Ich traue ihnen zu, ihre Sachen zu regeln (mit ein bisschen Unterstützung, wenn sie die denn möchten) - und das geht, davon bin ich überzeugt, in jedem Alter. Denn, wie gesagt: Wenn die Regel unveränderbar und notwendig einzuhalten ist, dann diskutiere ich nicht, sondern stelle wertschätzend fest und vertraue darauf, dass sie eingehalten wird.
Klingt einfach, oder? Ist es auch! Nur am Anfang, da brauchte ich schon Unterstützung. Und dann hatten wir alle Spaß daran.
Quelle: neue gespräche Heft 6/2007