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Grundlagen systemischen Denkens und Handelns

 

In den 50er Jahren stieß die therapeutische Arbeit an ihre Grenzen. Das gewohnte Feld der Einzel- und Gruppentherapie wurde verlassen. Familientherapien wurden durchgeführt, orientiert an den ursprünglichen Ausrichtungen. So entwickelten sich psychoanalytisch (Boszormenyi-Nagy & Spark 1973; Stierlin 1978, 1980), humanistisch (Satir 1990; Jürgens & Salm 1984) und verhaltenstherapeutisch (Minuchin 1974) orientierte Familientherapien. Durch erste Erfolge, ergänzt durch theoretische Anregungen (Bateson 1982, 1983, 1990; Simon 1988, 1990; von Foerster 1981, 1999; Watzlawick 1981), fand in der Folgezeit ein Wandel von der Familientherapie zur systemischen Per¬spektive statt (Reiter et al. 1988). Statt der Betrachtung von Zuständen, Konstanz und linearer Kausalität rückten Muster, Komplexität, Prozesse, Rückkopplung und Zirkularität in den Fokus der Arbeit. Aus dem Versuch heraus, effektiver zu arbeiten, entstanden lösungs- und ressourcenorientierte Ansätze (De Shazer 1989a,b, 1992; Berg 1992; Berg & Miller 1995), die dem Problem-Gespräch einen geringeren Stellenwert einräumten.

Aus den Geistes- und Sozialwissenschaften beeinflussten in erster Linie die theoretischen Anregungen der konstruktivistischen Erkenntnistheorie (Matu¬rana & Varela 1987), der Theorie sozialer Systeme (Luhmann 1984, 1985) und des sozialen Konstruktionismus (Gergen 1990) die systemische Arbeits- und Denkweise. In den Fokus der Betrachtung rückte die Frage nach der Wirklichkeit, der Entstehung von Erkenntnis und der Kausalität. Es wurde von der prinzipiellen Unerfassbarkeit einer objektiven Realität ausgegangen. Das Erkennen ist nicht durch die Außenwelt, sondern durch die Struktur des erkennenden Organismus determiniert. Lebende Systeme erzeugen, regulieren und erhalten sich selbst, sind also von außen prinzipiell nicht determinierbar (Autonomie). Lediglich eine zer(ver)störerische Einwirkung von Außen ist möglich. Die moderne Systemtheorie grenzt sich von früher verwendeten technizistischen Konzeptionen (Kybernetik 1. Ordnung, Homöostase) ab. Die Veränderung liegt vor allem in der Abkehr von der Vorstellung der Planung und Steuerung lebender Systeme hin zur Beschreibung von Systemen als selbstreferentiell (Kybernetik 2. Ordnung: die Kybernetik wird auf sich selbst angewandt, betrachtet sich selbst). Ludewig (1992) übertrug in einem ersten Versuch die theoretischen Anregungen auf die (systemische) Arbeit mit Klienten. Von Schlippe und Schweitzer schrieben 1996 das erste Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung.

In den Naturwissenschaften fand ebenfalls ein Umdenken statt. In der Chemie entdeckte der Nobelpreisträger Prigogine (1977; Prigogine & Stengers 1993), wie in chemischen Prozessen scheinbar wie von selbst neue Ordnungen und Muster (dissipative Strukturen) entstanden. In der Physik wurden mit der Synergetik (Haken 1990) und in der Mathematik (Kriz 1992; Peitgen et al. 1992, 1994) mit der Chaostheorie ähnliche Phänomene beschrieben. Die Theorien nichtlinearer, dynamischer, komplexer Systeme haben zu einer disziplinübergreifenden Systemwissenschaft geführt (Haken & Schiepek 2006). Entgegen den Vorstellungen von Kausalität und Homöostase können Systeme unter bestimmten Rahmenbedingungen aus sich heraus selbstorganisiert neue Strukturen entwickeln, verändern und stabilisieren. In den Fokus rückt der Prozess, die Person selbst und die wichtigen kritischen Momente, die in der Regel mit Schwankungen verbunden sind. Schwankungen (kritische Instabilitäten) werden somit als nützlicher Hinweis für die Möglichkeit von Veränderungen betrachtet. Das Schaffen von hilfreichen Rahmenbedingungen (Sicherheit, Stabilität, Struktur, Konstanz) gilt als Voraussetzung von Veränderung.

In der Sozialen Arbeit und Pädagogik hat sich der systemische Ansatz bzw. die systemische Arbeit mit Familien seit den frühen Arbeiten von Oswald/Mühlensiefen (1985) und Goldbrunner (1989) mittlerweile etabliert. Sowohl aus Wissenschaft als auch Praxis der Sozialen Arbeit heraus entstanden eine Vielzahl von Publikationen, deren theoretischen Bezüge ausdrücklich systemischer oder konstruktivistischer Natur sind. Exemplarisch hierfür stehen die Arbeiten von Pfeiffer-Schaub (1995; „Jenseits der Familientherapie"), Rotthaus (1998: „Wozu erziehen?"), Conen (1996, 2002: „Aufsuchende Familientherapie"), Miller, T. (2001: „Systemtheorie und Soziale Arbeit"), Kraus (2002: „Konstruktivismus, Kommunikation, Soziale Arbeit"), Omer/von Schlippe (2003, 2004: „Systemisches Elterncoaching"), Ritscher (u.a. 2005, 2007: „Systemische Kinder- und Jugendhilfe") sowie insb. das umfangreiche Werk Kleves (u.a. 1996, 1999, 2003, 2007: „Postmoderne Sozialarbeit, Systemisches Case-Management"). Die empirische Relevanz von professioneller Identität als Konstruktionsprozess auf konstruktivistischer Basis wurde durch Harmsen (2004) nachgewiesen. Allen Autor_innen ist gemeinsam, dass sie eigene fundierte Praxiserfahrung und wissenschaftliches systemisches Denken zueinander in Relation setzen. Der Erfolg systemischer Sozialarbeit beruht nicht zuletzt auf diesem gelingenden Theorie-Praxis-Bezug.

Ganz allgemein wird ein System definiert als Menge von wechselwirkenden, in Beziehung stehenden Elementen, die von der Umgebung abzugrenzen sind. Ein System kann je nach der eingenommenen und für die Arbeit als sinnvoll erachteten Perspektive von einer Person (Beobachter) bestimmt werden. Beispielsweise können die unterschiedlichen Gefühle eines Klienten ein System darstellen oder auch die gesamte Psyche mit den Elementen Verhaltensweisen, Kognitionen, Gefühle. Ein anderes System stellt der Mensch (bio-psycho-soziales System) dar, auch die Familie mit ihren Familienmitgliedern kann als System gesehen werden, ebenso eine Schulklasse oder auch das Helfersystem. Wird die Arbeit mit Klienten als Arbeit mit komplexen, dynamischen Systemen gesehen, so gilt es, die Eigenschaften der betrachteten Systeme zu beachten.

  • Lebende Systeme sind in der Regel komplex, unterliegen einer nichtlinearen (Eigen-) Dynamik, sind selbstreferentiell und damit selbstorganisierend, nicht instruktiv steuerbar sowie mittel- und langfristig nicht vorhersehbar (dennoch nicht zufällig). Eine Ver- oder Zerstörung (Traumatisierung) oder Energetisierung (Motivation) ist möglich.
  • Linear-kausale Ursache-Wirkungsprinzipen stellen meistens keine sinnvollen Erklärungsmodelle dar. Dies bedeutet eine Abkehr von der Medikamenten-Metapher. Eine dosierte, gezielte Einwirkung in ein lebendes System ist nicht möglich. Problem und Lösung müssen nicht (kausal) zusammenhängen. Ein beschwerdefreier Zustand kann beispielsweise durch Anregung neuer, weniger leidvoll empfundener Zustände erreicht werden, so dass das Problem verschwunden ist. Kleine Veränderungen können große Veränderungen nach sich ziehen (Abkehr vom Prinzip der starken Kausalität). Daher leistet die Systemtherapie weder eine Behandlung der Ursachen noch eine der Symptome, sondern sie gibt lebenden Systemen Anstöße, die ihnen helfen, neue Muster miteinander zu entwickeln. Der Fokus der Betrachtung liegt auf Muster, Wechselwirkungen, Dynamik, Beziehungen und Bedeutungen.
  • Die Kommunikation, die Darstellung des Problems oder beispielsweise die Beschreibung der Lebensereignisse des Klienten werden als Erzeugung von Wirklichkeiten gesehen. Es wird nach einer für den Klienten und den Prozess sinnvollen Beschreibung gesucht und nicht nach einer objektiv richtigen oder falschen Wirklichkeit. Diese wird konstruiert durch die Person, abhängig von seinen Gefühlen, Erfahrungen, Gedanken, Einstellungen, äußeren Einflüssen usw. Die Annahme einer objektiven Wirklichkeit wird als nicht sinnvoll angesehen. Probleme sind demnach Leidenszustände, die als Problem benannt (konstruiert) werden. Die Person selbst wird nicht als pathologisch betrachtet.
  • Wie aus der Systemtheorie ableitbar, erfordern Veränderungen die Energetisierung eines Systems. Die Motivationen und das persönliche Engagement des Patienten für den beraterischen, therapeutischen Prozess, die Aktivierung persönlicher Ressourcen sowie die erlebte Selbstwirksamkeit stellen solche Energetisierungen dar. Befindet sich ein System in einem stabilen Problem-Zustand, kann es durch Veränderung der Motivationslage destabilisiert werden. Es verlässt den stabilen Zustand und gerät in einen Zustand kritischer Instabilität. Das System testet nun verschiedene Lösungsmöglichkeiten. Schließlich setzen sich eine oder mehrere Lösungen durch. Dieser Übergang mit Selbstorganisation und Strukturbildung erfolgt häufig schlagartig. Wichtig in der Arbeit ist es also die augenblickliche Motivationslage zu beachten, zu nutzen und zu unterstützen.
  • Da Veränderungen unvermeidlich (Dynamik) sind, gibt es immer Ausnahmen vom Problem. Die Arbeit mit den Ausnahmen und die Erarbeitung vorhandener und zum Teil nicht erkannter Ressourcen gilt als ein wichtiger Baustein der systemischen Arbeit (Prinzip der Utilisation: Was der Klient mitbringt, nutzbar machen.) Für lebende Systeme gilt: Alles verändert sich. Es sei denn irgendwer sorgt dafür, dass es bleibt, wie es ist. Bei sogenannten trivialen Systemen (Maschinen) ist es umgekehrt. Beispielsweise würde man sich wundern, wenn eine Beule am Auto von selbst verschwindet, während man sich bei einer Beule am Kopf eines Menschen wundern würde, wenn diese bliebe (Simon 1990).
  • Gezielte Interventionen haben keinen direkten Einfluss auf den therapeutischen Veränderungsprozess. Dieses wurde in der umfangreichsten Metaanalyse in der Geschichte der Therapieprozessforschung anhand des Generic Model of Psychotherapy (Orlinsky et al. 1994) aufgezeigt. Voraussetzung für den Erfolg einer Intervention ist die Aufnahmebereitschaft des Klienten. In der systemischen Arbeit wird diese Eigenschaft durch eine sorgfältige Auftragsarbeit und die Kundenorientierung berücksichtigt (s.u.).
  • Um sich auf Destabilisierungsprozesse einlassen zu können, ist es für die Klienten notwendig, Bedingungen von Stabilität, Sicherheit, Vertrauen, Offenheit und Wertschätzung zu erleben. Die Therapieforschung bestätigt schon seit langem, dass eine vertrauensvolle Therapeut-Klient-Beziehung, die Struktur in der Therapie, Stabilität im Vorgehen und ein geeigneter Rahmen bedeutsam für psychotherapeutische Veränderungsprozesse sind. Dieses gilt während der Phase kritischer Instabilität als auch während der Restabilisierungsphase.
  • Da Systeme ohnehin tun, was ihrer Selbstorganisation entspricht, da Weiterentwicklung unvermeidbar ist und da Therapeuten ihre Klientensysteme weder objektiv beschreiben noch instruktiv lenken können, verändern sich die Bilder über die Rolle der Therapeuten und Berater. Sie sind weniger Experten für die Sache - niemand kennt die Situation besser als die Klienten selbst - sondern eher Experten für die Ingangsetzung hilfreicher Prozesse. Sie sind Experten für die Gesprächsführung, für Dialoge, in denen unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen beschrieben werden und in denen mit alternativen Konstruktionen gespielt wird. Die Idee, dass sie kontrollieren können, was im System (Mensch, Familie etc.) passiert, ist nicht sinnvoll. Berater sind neugierig auf die Eigenlogik ihrer Klientensysteme und versuchen, deren Nützlichkeit (Ressourcen) für die Lebenspraxis der Klienten wertzuschätzen. Mögliche Verhaltens-, Denk- und Fühlweisen werden durchgespielt, um so die Zahl der Möglichkeiten zu vergrößern.

Zusammengefasst bedeutet systemisches Arbeiten das Schaffen von Bedingungen für die Möglichkeit (selbstorganisierter) Veränderungen in komplexen bio-psycho-sozialen Systemen unter professionellen Bedingungen (Schiepek 1999). Gute systemische Arbeit hat den Anspruch nützlich, respektvoll und schön zu sein (Ludewig 1988).

Quelle: Malteser Jugend- und Familienhilfe NRW

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Quelle des nebenstehenden Textes:

MW Malteser Werke gemeinnützige GmbH:
Flexible Ambulante Familienhilfe NRW. Konzeption
Hamm 2012